Ansaugen: Das zieht nicht mehr

Ansaugen: Das zieht nicht mehr

Vor 60 Jahren brachte Eppendorf die erste Kolbenhubpipette auf den Weltmarkt. Wie kann man das besser feiern als mit einem Blick in die Geschichtsbücher, um herauszufinden, wo alles begann?

Wenn Sie sich in Forschungs-, Industrie- und Krankenhauslaboren umschauen, werden Sie nicht umhinkönnen, eine Unmenge an Pipetten zu entdecken. Diese so unscheinbar wirkenden Geräte zieren fast jeden Labortisch. Sie sind ein wesentlicher Teil fast aller Laborprotokolle und sind aus der modernen Biowissenschaft und Biotechnologie nicht mehr wegzudenken. Die Welt der Wissenschaft hat lange auf sie gewartet, doch wenn Eppendorf das Zeitalter der präzisen und akkuraten Pipettierung nicht vorangetrieben hätte, wer weiß, ob nicht heute noch mit dem Mund pipettiert würde?

Schlechter Nachgeschmack: Mundpipettierung

Auf unserer Reise zurück ins 18. Jahrhundert finden wir die ersten Vorläufer der modernen Pipette, das Berthollimeter und den Alkalimeter, die von dem französischen Chemiker, Apotheker und Erfinder François Descroizilles entwickelt wurden1. Diese ersten Ausführungen wurden später von Joseph-Louis Gay Lussac etwas verändert und erhielten 1824 die Bezeichnung Pipette1 - es dauerte allerdings noch bis in die 1950er Jahre, bis diese Pipetten den uns heute bekannten zu ähneln begannen.

Der gemeinhin als Urvater der Mikropipette angesehene Mediziner Heinrich Schnitger stieß 1957 zu einem Forscherteam am Institut für Physiologische Chemie der Universität Marburg und war bald der Unzulänglichkeiten der Mundpipettierung überdrüssig2. Bei der Mundpipettierung saugt der Anwender die Flüssigkeit mit dem Mund in ein dünnes Glasröhrchen. Die Pipetten wurden nicht nur routinemäßig mit gefährlichen Chemikalien wie Schwefelsäure gereinigt, sondern Erzählungen zufolge wurden bei der Mundpipettierung auch gelegentlich gesundheitsschädliche Stoffe wie Typhuskulturen3 und sogar Plutonium versehentlich verschluckt4.

So verschwand Schnitger eines Tages aus dem Labor, um nur einige Tage später mit einer selbstgebauten Vorrichtung zurückzukehren, mit der man Volumina im Mikroliterbereich aliquotieren konnte. Diese Vorrichtung, die heute als „Marburg-Pipette“ bekannt ist, bestand aus einer umfunktionierten Tuberkulinspritze, an deren Kolben eine Feder angebracht war, und die einen oberen Endanschlag zur Bestimmung des Volumens aufwies. Schnitger ersetzte nicht nur die Nadel der Spritze durch eine Spitze aus Polyethylen, sondern gestaltete das Gerät auch so um, dass die Flüssigkeit durch ein Luftpolster vom Kolben der Spritze getrennt und so in der Spitze aus Polyethylen gehalten wurde2.

Doch damit endet Schnitgers Rolle in der Geschichte der Mikropipette noch nicht. Sein Vorgesetzter an der Universität Marburg erkannte schnell die Bedeutung von Schnitgers Erfindung, entband ihn von seinen Forschungspflichten und ermutigte ihn, seine Innovation weiterzuentwickeln. Nachdem er eine zweite Koaxialfeder hinzugefügt hatte, dank derer der Anwender nun die Flüssigkeit bis zum letzten Tropfen dispensieren konnte, und einige weitere kleine Änderungen vorgenommen hatte, meldete Schnitger am 3. Mai 1957 ein Patent in Deutschland an. Endlich, fast vier Jahre später, am 24. April 1961, erhielt er das Patent. Darin sind nicht nur alle wesentlichen Merkmale einer modernen Pipette beschrieben, sondern es enthält auch Ideen dazu, wie man durch den Einfluss der Umgebungstemperatur entstehende Fehler verringern kann, sowie den Entwurf einer Mechanik, die das Pipettieren variabler Volumina ermöglichen konnte2.

Heinrich Schnitger meldete ein Patent für eine „Vorrichtung zum schnellen und exakten Pipettieren kleiner Flüssigkeitsmengen“ an – die erste Mikropipette.
Die Kolbenhubpipette von Eppendorf entwickelt sich nach der Einführung der ersten »Marburg« Pipette 1961 immer weiter.

Eppendorf ebnet den Weg für das moderne Liquid Handling

Eppendorf erkannte als Erstes die Bedeutung von Schnitgers Erfindung und Wilhelm Bergmann, Ingenieur bei Eppendorf, arbeitete an ihrer Weiterentwicklung. Bergmann veränderte unter anderem die Form, um das Handling zu verbessern, und er ersetze bei den Spitzen Teflon durch Polypropylen (PP). Seine Arbeit wurde mit der ersten kommerziellen Kolbenhubpipette gekrönt, die Eppendorf 1961 auf den Markt brachte. Bergmann spielte aber nicht nur bei der Entwicklung und Markteinführung der Kolbenhubpipette eine entscheidende Rolle, sondern auf ihn geht auch die Entwicklung des ersten erfolgreichen Einweggefäßes für die Verarbeitung von Volumina im Mikroliterbereich zurück (das „Eppi®“).

Technische Zeichnung der ersten Eppendorf Tubes® („Eppi™“). Ohne Eppi™ und seine speziellen Materialeigenschaften, die Eppendorf stets weiterentwickelt, wäre die Entwicklung von Impfstoffen heute undenkbar.
Das „Mikroliter-System“ von Eppendorf: Der ganzheitliche Ansatz setzte in Laboren auf der ganzen Welt neue Maßstäbe.

Zusammen mit der Kolbenhubpipette, der Mikroliterzentrifuge und dem Thermomixer bilden diese Einweggefäße das Mikroliter-System von Eppendorf; eine Gerätekombination, die viele wissenschaftliche Disziplinen revolutioniert hat. Traurigerweise ertrank Schnitger 1964 in einem See in Bayern, nur wenige Jahre nachdem Eppendorf seine Erfindung auf den Markt gebracht hatte2. Sein Erbe und seine Innovationsfreude aber Leben durch Eppendorf weiter. Dort investierte man weiter in die Entwicklung der Kolbenhubpipette und konnte so 1976 die Pipette Eppendorf Comforpette 4700 präsentieren. Die Comforpette 4700 war die erste Pipette mit automatischem Spitzenabwurf, dank dem die gebrauchte Spitze nicht mehr mit der Hand angefasst werden musste; ein wichtiger Mechanismus, besonders beim Arbeiten mit gefährlichen Flüssigkeiten.

Die erste Pipette mit automatischem Spitzenabwurf: die Eppendorf Comforpette 4700.

Die weltweite Verbreitung der Pipette nahm immer mehr Fahrt auf, was neue Herausforderungen, aber auch neue Ausführungen hervorbrachte. So arbeiteten beispielsweise die ersten Pipetten nach dem Luftpolsterprinzip, und obwohl dieses Prinzip bei den meisten Anwendungen präzise Ergebnisse ermöglicht, unterliegen diese doch den Einflüssen von Temperatur und Luftdruck sowie der Viskosität, Volatilität und Oberflächenspannung der zu pipettierenden Flüssigkeit. Um da Abhilfe zu schaffen, wurden Geräte entwickelt, die nach dem Direktverdrängersystem arbeiten. Anders als bei Luftpolsterpipetten ist der Kolben bei Direktverdrängersystemen nicht Teil der Pipette, sondern gehört zu den speziell dafür vorgesehenen Einwegspitzen. Somit kommt er in direkten Kontakt mit der Flüssigkeit.

Dadurch, dass es bei Direktverdrängerpipetten kein Luftpolster gibt, wird die Genauigkeit nicht durch die Eigenschaften der verwendeten Flüssigkeit beeinflusst. Das macht diese Pipetten zur ersten Wahl bei Arbeiten mit anspruchsvollen Flüssigkeiten. Das System aus Multipette® und Combitips®, das Eppendorf 1978 auf den Markt brachte, arbeitet nach dem Direktverdrängerprinzip. Mit diesem Gerät war es erstmals möglich, eine Spitzenfüllung in mehreren Schritten zu dispensieren – was noch heute unerlässlich ist für effizientes Liquid Handling und allgegenwärtig in vielen Laboren, die mit Platten oder Gefäßserien arbeiten. Die aktuellen Multipette/Repeater-Modelle sind die wichtigsten Direktverdrängersysteme in Eppendorfs Portfolio. Sie lassen nichts von der Qualität ihrer Vorgänger missen und kombinieren diese mit den neuesten Innovationen der Pipettentechnologie.

Das Multipette®/Combitips®-System erfreute sich in Laboren schnell großer Beliebtheit.

Vielversprechende Zukunft

Inzwischen sind unglaubliche 60 Jahre vergangen, seit Eppendorf die allererste Kolbenhubpipette auf den Markt gebracht hat. Dieses Gerät hat die Wissenschaft grundlegend revolutioniert. Seit diesem Wendepunkt ist Eppendorfs DNA in jeder hergestellten Pipette wiederzufinden. Aber damit endet die Geschichte noch lange nicht. Eppendorf hat es sich auf die Fahne geschrieben, die besten Liquid Handling-Systeme zu entwickeln und bringt weiter innovative Designs auf den Markt, um Labore noch effizienter, sicherer und überhaupt zu einem besseren Ort zu machen!
 

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Referenzen
1. Origins of the Pipette: Why Today’s Scientists Don’t Need to Use Their Mouths – The Incubator. http://incubator.rockefeller.edu/origins-of-the-pipette-why-todays-scientists-dont-need-to-use-their-mouths/.
2. Klingenberg, M. When a common problem meets an ingenious mind. EMBO Reports vol. 6 797–800 (2005).
3. Phillips, G. B. & Bailey, S. P. Hazards of Mouth Pipetting * 1190.
4. Lawrence Bartell’s Interview | Manhattan Project Voices. https://www.manhattanprojectvoices.org/oral-histories/lawrence-bartells-interview.


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