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Von Mustern und Modellen

Beyond Science

Unser Alltag ist von Mathematik durchdrungen. Es gebe kaum Bereiche, wo Modellbildung und Simulation keinen Einfluss hätten, sagt Gerta Köster, Professorin an der Hochschule München.

In der Pandemie wird häufig mit Simulationen in Talkshows die Welt erklärt.

Gerta Köster: Die Mathematik ist schon länger im Aufwärtstrend. Der Siegeszug begann vor etwa zehn Jahren mit der künstlichen Intelligenz (KI). Die Mathematik könnte zwar ganz gut alleine zurechtkommen, aber würde sich dann noch jemand dafür interessieren? Ich zum Beispiel nicht. Die Weiterentwicklung der Mathematik wird stark getrieben von Problemen, die aus der Praxis kommen – das ist eine glückliche Ehe.

Aristoteles hat Mathematik als „Kunst des Lernens” bezeichnet.

Früher konnte man in der Mathematik noch einen Doktor der Philosophie erwerben. An der Uni werden heute gerade in den ersten Semestern Strukturen eingeführt, an denen sich logisches Denken hervorragend schulen lässt. Man lernt, sich im Kopf zu disziplinieren. Aber am schönsten ist doch die Anwendung – inzwischen werden mathematische Modelle ja sogar in den Sozialwissenschaften gebraucht.

Das ist Ihr Spezialgebiet: Sie bauen Modelle und simulieren etwa Fußgängerbewegungen.

Das Schöne daran: man arbeitet nie alleine. Die Mathematik ist so zwischen der jeweiligen Anwendungsdisziplin und der Informatik angesiedelt. Ich schaue mit meinen Studierenden, wie sich Menschen durch urbane Bereiche bewegen, so haben wir mit „Vadere“ die Evakuierung eines Wiesnzelts simuliert oder ein Modell nachgebaut, wie ein U-Bahn-Waggon nach einem Bombenanschlag 2005 in London geräumt wurde. Dafür kooperieren wir mit Psychologen – die haben uns darauf gebracht, dass Menschen nicht alleine flüchten, sondern sich als Opfer identifizieren und gegenseitig helfen.

Sie nehmen empirische Beobachtungen, beschreiben Muster, um so Modelle herleiten zu können?

Entscheidend ist, herauszufinden, was bei der Beobachtung charakteristisch ist, sonst wird man nie fertig. Die Haarfarbe ist es wohl kaum. In den Pandemie-Modellen ist es offensichtlich das Alter, in den Fußgängersimulationen die Gruppenzugehörigkeit. Die Kunst, wegzulassen, das ist die schwierigste Aufgabe eines Modellierers, der sein Modell immer in drei Schritten bastelt: Beschreibung der echten Welt – zum Beispiel Fassen der Beobachtung in eine mathematische Gleichung – Übersetzung in eindeutige Rechenvorschriften – also einen Algorithmus – und Programmierung. Auf allen Ebenen muss man permanent überprüfen, ob die Annahmen noch stimmen.

Wann weiß ich, ob mein Modell valide ist?

Man weiß es nie, das ist das Tragische der Modellierung! Ich zitiere gerne den britischen Statistiker George Box, der hat in den Siebzigern gesagt: „All models are wrong, but some are useful.“ Man macht bei diesen Vereinfachungen und Abstraktionen immer Fehler. Die Frage ist: Sind sie so falsch, dass das, was man damit vorhersagt, keinen Nutzen mehr bringt?

Benötigt man für jede Fragestellung ein neues Modell?

Oft schaut man, ob es verwandte Phänomene gibt, und wird erst mal tüchtig klauen. Bei den Fußgängersimulationen hat man sich von Physik-Modellen beeinflussen lassen, jetzt realisiert man: Wie Sandkörner verhalten sich Menschen doch nicht. Für die Pandemie benutzt man die Modelle von vor hundert Jahren, Kermack und McKendrick haben die schon 1927 veröffentlicht.

Die funktionieren noch?

Pandemien gab es schon immer, die Prinzipien sind folglich identisch. McKendrick war ein britischer Mediziner, der hat damals die Pestepidemie von Bombay 1905/06 modelliert und ist von drei Gruppen ausgegangen: den gegen die Krankheit nicht immunen gesunden Menschen (susceptible), den Infizierten, die ansteckend sind (infectious), und den Personen, die genesen oder gestorben sind (removed). Das war die Geburt des SIR-Modells, das diese drei Gruppen in Beziehung zur Gesamtheit der Bevölkerung setzt und damit unterschiedliche Annahmen durchspielen kann. Ein makroskopisches Modell, das gut funktioniert, wenn man die Bevölkerung als Gesamtheit betrachtet. Es kann aber nicht erklären, wie eine lokale Infektion von Person auf Person im Supermarkt abläuft. So ein Modell bauen wir gerade.

Wie lange wird das dauern?

Bis etwa Ende des Jahres. Wir müssen zunächst die Literatur sichten – rund 200 wissenschaftliche Artikel über COVID-19 werden täglich publiziert. Wir müssen also filtern und dann überlegen: Wie vereinfachen wir das? Was machen wir für einen Algorithmus? Wie basteln wir die Software-Architektur?

Der Algorithmus wird definiert als Lösung eines mathematischen Problems, das für den Computer den Weg vorgibt. Ein simples Modell ist: Ich stecke mich an, wenn ich den Abstand von 1,50 Meter zu einem Infizierten unterschreite. Aber was heißt „brechen”? Für 1 Sekunde, 1 Stunde? In der verbalen Beschreibung kann man das offenlassen, für den Computer ist das inakzeptabel. Der muss alles geschlossen haben – da gibt es nur Nullen und Einsen, kein Ungefähr. Ein Algorithmus schließt diese Lücken, ist selbst aber noch kein Programm. Er übersetzt in Zahlen.

Welcher Part ist der aufwendigste?

In zwei der drei Phasen darf man sich auf keinen Fall hetzen lassen: Wenn man am Anfang bei der interdisziplinären Zusammenarbeit etwas falsch macht, dann rennt man sehr lange in die falsche Richtung. Das eigentliche Programmieren geht relativ zügig, aber ein gutes Werkzeug – das sind oft Zehntausende Zeilen Code – wird andauernd getestet. Wenn Sie eine Zeile in Ihrem Code ändern, wird alles geprüft, um sicherzustellen, dass Sie nicht durch diese eine Zeile einen Fehler eingeführt haben, der Ihnen an anderer Stelle alles durchei­nanderwirft. Das dauert einfach.

IM KURZPORTRAIT

Gerta Köster, 52, lehrt Mathematik an der Hochschule München. 2010 trat sie die Professur für Wissenschaftliches Rechnen an. Sie arbeitet am liebsten interdisziplinär und anwendungsorientiert. Ihr Spezialgebiet: Modellbildung und Fußgängersimulationen. Ihr jüngstes Forschungsprojekt (lokales Infektionsgeschehen) wird vom BMBF gefördert.