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Bunte Klänge

Beyond Science

Für Synästhetiker sind Zahlen bunt gefärbt oder Musik ein visuelles Spektakel. Was es mit diesem Phänomen der Sinne auf sich hat.

Welche Klänge Wassily Kandinsky wohl im Ohr gehabt haben mag, als er nach dem Besuch eines Konzerts mit Werken von Arnold Schönberg sein farbenprächtiges Werk „Impression III (Konzert)“ auf die Leinwand brachte? Der russische Maler soll Synästhesist gewesen sein, was Schätzungen zufolge auf vier von hundert Menschen zutrifft. Bei ihnen verbindet sich eine Sinneswahrnehmung automatisch mit einer anderen. Vor ihrem inneren Auge nehmen etwa Buchstaben unterschiedliche Farben an oder verbindet sich Musik mit Farben, Formen oder Strukturen.

Bittersüße Sekunden

Eine, die buchstäblich ein Lied davon singen kann, ist Elisabeth Sulser. Hört die Schweizer Flötistin Musik, sieht sie die Klänge in bunten Farben und projiziert das Gehörte gedanklich auf eine „innere Leinwand“. Der Ton C leuchtet rot, das D ist gelb, das G blau. So entsteht in ihrem Kopf ein kaleidoskopartiges Gemälde, das sich mit dem Tempo der Musik ständig verändert. Während das „farbige Hören“ zu den klassischen Beispielen für synästhetische Wahrnehmungen gehört, verbindet Sulser zusätzlich Tonintervalle mit Geschmack – eine bislang unbekannte Verknüpfung. Hört die Musikerin zwei auseinanderliegende Töne innerhalb einer Oktave, schmeckt sie diese auf der Zunge: Eine große Sekunde schmeckt bitter, die Quinte dagegen nach einem Glas Wasser.

Mitempfindung: Dieser Begriff umschreibt das verblüffende Phänomen der Synästhesie vielleicht am treffendsten, bei dem ein bestimmter Reiz eine nachfolgende Wahrnehmung auslöst. Etwa 80 Varianten sind der Forschung inzwischen bekannt. Wie die „Synästhesie-Liste“ des US-Anthropologen und Synästhesisten Sean Day zeigt, sind alle erdenklichen Verknüpfungen zwischen den Sinnen möglich – von der Sequenz-Raum-Synästhesie (Zeiteinheiten wie Wochentage oder Monate werden vor dem inneren Auge räumlich angeordnet) bis hin zur Gefühls-Synästhesie, bei der emotionale Zustände wie Traurigkeit oder Freude farbig oder in Formen wahrgenommen werden.

Spontane Einbahnstraßen

Trotz ihrer Unterschiedlichkeit haben die synästhetischen Wahrnehmungen einiges gemeinsam. So verlaufen sie in der Regel in einer „Einbahnstraße“: Verknüpft etwa ein Graphem-Farb-Synästhetiker den Buchstaben B mit der Farbwahrnehmung rot, löst die Farbe rot umgekehrt nicht die Wahrnehmung des Buchstabens B aus. Außerdem lassen sich synästhetische Wahrnehmungen nicht künstlich herbeiführen, sie sind immer spontan. Diese Gesetzmäßigkeiten unterscheiden die Synästhesie beispielsweise von Halluzinationen oder dem Drogenrausch.

Woher kommt nun diese faszinierende Variante der Kognition, die solche außergewöhnlichen Wahrnehmungen möglich macht? Laut der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft beruhen synästhetische Wahrnehmungen auf zusätzlichen neuronalen Verbindungen zwischen zwei oder mehreren Gehirnarealen, die Sinnesreize wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Fühlen verarbeiten. Zusätzlich gibt es in Gehirnen von Synästhesisten auch Verknüpfungen anderer neuronaler Strukturen und Bereiche, die für Gefühle und Emotionen, für Gedächtnis, Intelligenz und andere kognitive Phänomene zuständig sind. Die Betroffenen sind mit ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit nicht allein, denn Synästhesie tritt oft als „Familienphänomen“ auf. Letztlich, so die Fachgesellschaft, sei Synästhesie eine physiologische Variante menschlichen Bewusstseins, die überwiegend Vorteile und nur selten Nachteile habe.

Angeborene Eselsbrücke

Blickt man auf die Liste betroffener Künstler, Musikerinnen und Autoren, scheinen die Vorteile zu überwiegen. Von Superstar Lady Gaga über Billy Joel, den Komiker Chris Martin bis hin zu Dichtern wie William Shakespeare oder Arthur Rimbaud: Sie alle eint eine besondere Begabung und Kreativität, die ihr Lebenswerk unsterblich macht. Viele Synästhesisten berichten, sie könnten sich besonders einfach Dinge merken – so als wäre die berühmte Eselsbrücke automatisch im Gehirn vorhanden, die sich andere erst mühsam konstruieren müssen. Außerdem wird Synästhesisten eine bessere Vorstellungskraft, Detailwahrnehmung sowie eine höhere Sensibilität und Empathie zugeschrieben. All das macht Betroffene allerdings auch anfälliger für Reizüberflutungen oder Angstreaktionen.

Forschende sind sicher: Erlernen kann man Synästhesie nicht, von ihr lernen aber durchaus. So lohnt es sich Bildungsforschenden zufolge, beim Lernen mehrere Sinne einzusetzen, um erworbenes Wissen besser im Gedächtnis zu verankern. Die Wissenschaft verspricht sich von der Synästhesie-Forschung Erkenntnisse über die menschliche Sinneserfahrung oder die Informationsverarbeitung im Gehirn. Vielleicht genügt aber auch die Einsicht, dass Vielfalt einfach zum Leben gehört. Synästhesie, meint Simon Baron-Cohen, Direktor am renommierten Autism Research Centre der University of Cambridge und selbst Synästhet, sei „ein eindeutiges Beispiel für Neurodiversität, die wir respektieren und schätzen sollten“.

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