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„Pure Objektivität ist nicht möglich“

Beyond Science

Geschlechterklischees beeinflussen viele Bereiche unseres Lebens. Auch in der Hirn­forschung haben sie weitrei­chende Folgen. Mit ihrem feministischen Ansatz möchte Anelis Kaiser Trujillo daran etwas ändern. Ein Interview.

Frau Kaiser Trujillo, Sie sind Hirn- und Geschlechterforscherin und haben sich innerhalb dieses Forschungsfeldes dem sogenannten Neurofeminismus verschrieben. Was genau ist das?
Anelis Kaiser Trujillo: Forschende deklarieren häufig, es gäbe eine sogenannte Objektivität in den Naturwissenschaften. Man schaue ganz neutral auf die Prozesse in der Natur. Mal ganz davon abgesehen, dass diese vermeintlich neutrale Sicht der Dinge eben doch eher männlich geprägt ist, sagen Feministinnen wie ich: Pure Objektivität ist in der wissenschaftlichen Arbeit gar nicht möglich. Ich als Forscherin habe ein Geschlecht, agiere ökonomisch oder aus einer bestimmten Position heraus und habe Interessen, die Einfluss haben auf meine Fragestellung zu einem bestimmten Thema. Der Neurofeminismus interessiert sich für die Perspektive der Frauen in den Neurowissenschaften. Im Feld der feministischen Neurowissenschaft geht es uns vorrangig um Fragen zum Gehirn. Also beispielsweise um die Frage, ob weibliche und männliche Gehirne Unterschiede aufweisen beziehungsweise wie diese Unterschiede neurobiologisch zu beurteilen sind und auch wie sie in unserer Gesellschaft interpretiert werden.

Wieso ist dieser feministische Blick auf die Forschung wichtig?
Geschlechterfragen haben biologische, soziale und auch psychologische Dimensionen und können deshalb nicht außer Acht gelassen werden. In der Hirnforschung wurden viel zu lange vermeintlich wissenschaftliche Erkenntnisse zu Unterschieden zwischen dem weiblichen und dem männlichen Gehirn produziert und kommuniziert. Ein Großteil der Befunde entstand beiläufig, also als Nebenprodukt anderer Forschungsfragen, weshalb Herangehensweisen und Ergebnisse wenig reflektiert wurden. Wenn Forschungsteams zudem nicht interdisziplinär aufgestellt sind und sich deshalb einer Fragestellung aus ein- und derselben Richtung nähern, werden Stereotype verfestigt und weiter in unserer Gesellschaft verankert.

Welchem Stereotyp oder vermeintlich wissenschaftlichen Befund über weib­liche und männliche Gehirne begegnen Sie am häufigsten?
Eine verbreitete Annahme ist, dass die Gehirne von Frauen und Männern fundamental verschieden sind. Das ist mitnichten so. Vielmehr treten Unterschiede, sofern sie sich überhaupt finden lassen, periodisch, lokal und singulär auf. Angenommen wird gemeinhin auch, dass sich Verhaltensunterschiede zwischen Frauen und Männern vom Gehirn ableiten lassen, in gewisser Weise also naturgegeben sind. Auch das konnte bisher nicht festgestellt werden. Ein Gehirn ist nie rein biologisch zu betrachten, und seine Biologie ist nie vom sozialen Kontext isoliert, sondern von Geburt an stark von der Umgebung geprägt. Was also von Anfang an da war und was man uns im Verlauf des Lebens an weiblichem und männlichem Verhalten vorgelebt hat, das lässt sich nicht trennen. Schließlich heißt es oft, im Gehirn sei zu sehen, dass sich Frauen und Männer hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Interessen unterscheiden. Ein Stereotyp besagt zum Beispiel, Frauen seien schlecht in Naturwissenschaften. Richtig ist aber: Sie haben lediglich Angst davor, dem Klischee zu entsprechen. Diese Furcht blockiert sie förmlich, sodass sie sich naturwissenschaftlichen Themen oftmals nicht unbefangen nähern können.

Typisch männlich, typisch weiblich –­­ warum faszinieren uns die (vermeintlichen) Unterschiede so?
Erfahrungen, die ich als Frau, Mann oder als jemand mit einer anderen Geschlechtlichkeit zu einem Thema mache, können sehr unterschiedlich sein, und am Ende haben alle etwas dazu zu sagen. Mich persönlich beschäftigt die Diskriminierung, die in unseren gesellschaftlichen Kontexten, zum Beispiel in der Arbeitswelt, aufgrund falscher Annahmen und vermeintlich wissenschaftlicher Befunde entstehen kann. Geht man auf Basis unsachgemäßer Forschungsarbeit davon aus, dass eine Frau gewisse Dinge weniger gut kann als ein Mann, so wird sie womöglich benachteiligt. Einem Mann wiederum tut man Unrecht damit, wenn man Strukturen in seinem Gehirn dafür verantwortlich macht, dass er sich weniger an der Kindererziehung oder Arbeit im Haushalt beteiligt.

Um Geschlechterklischees im Bereich der Hirnforschung abzubauen, haben Sie das „NeuroGenderings Network“ gegründet, ein interdisziplinäres Kollektiv im Bereich des Neurofeminismus. Welches Ziel verfolgen Sie?
Wir haben uns damals vor dem Hintergrund zusammengetan, dass uns die reine Suche nach geschlechtsspezifischen Differenzen in der Hirnforschung zu „unwissenschaftlich“ war. NeuroGenderings setzt sich kritisch mit Fragen zu Geschlecht und Gehirn auseinander, die weit über die Geschlechterdifferenzforschung hinausgehen. Denn Geschlecht hat immer etwas mit Biologie, mit Psychologie und mit sozialen Strukturen zu tun. Wir vereinen Expertinnen aus dem Bereich der Neurologie, der Geisteswissenschaften, der Soziologie oder der Wissenschaftsforschung und beschäftigen uns zum Beispiel mit der Frage, wie Studien aufgebaut sein müssen, um keine sexistischen Klischees zu reproduzieren. Und auch hier gilt in meinen Augen: Forschungsteams müssen interdisziplinär sein, um die Geschlechterfragen auf einem hochkomplexen Niveau beantworten zu können. Neurowissenschaften und Gender Studies müssen bei der Frage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden im Gehirn immer zusammenarbeiten. Monodisziplinäre Herangehensweisen sind heute nicht mehr wissenschaftlich genug – das gilt nicht nur für den Bereich des Neurofeminismus.

Kurzporträt

Anelis Kaiser Trujillo ist ­Psychologin und Neuro­wissenschaftlerin an der ­Universität Freiburg. In ihrer Forschungsarbeit befasst sie sich insbesondere mit der geschlechterspezifischen Hirnforschung. Dafür wurde sie 2021 mit dem Emma Goldman Award ausgezeichnet.