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Dossier Gemeinschaft 1 - Was wir alleine nicht schaffen

Beyond Science

Gemeinschaftlicher Zusammenhalt gilt als „Kitt unserer Gesellschaft“. In Krisenzeiten sorgt er dafür, dass Menschen enger zusammenrücken – und über sich selbst hinauswachsen.

Wir sind zur Gemeinschaft geschaffen, wie Füße, wie Hände, wie die untere und die obere Zahnreihe.“ Was der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel im zweiten Jahrhundert nach Christus blumig umschrieb, gilt bis heute: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Von der Stunde seiner Geburt an lebt er am liebsten in Gemeinschaft. Gründet Familien, arbeitet in Teams, redet am Stammtisch, singt im Chor und spielt im Verein. „Soziale Beziehungen sind die Grundlage für persönliche Identität und unsere Verbindung mit anderen. Dies ruft positive Emotionen hervor, und die Beziehung erlebt eine Aufwärtsspirale“, erklärt der Psychologe Andrew Kemp von der britischen Swansea University.
Das Prinzip der Solidargemeinschaft mit gemeinsamen Werten gilt als Grundlage für eine gelingende Gesellschaft. Und nicht nur in Krisenzeiten erweist sich gemeinschaftlicher Zusammenhalt als „Kitt unserer Gesellschaft“. Vom gemeinschaftlichen, länderübergreifenden Müllsammeln am Rheinufer bis hin zum Kampf gegen eine weltweite Pandemie: Viele Dinge schaffen wir nur gemeinsam.

Diese Erkenntnis hat sich auch schon vor der Corona-Pandemie regelrecht zum Trend entwickelt. Nachdem viele Jahre Individualismus und Selbstverwirklichung das Lebensgefühl bestimmten, werden jetzt Autos und Motorroller geteilt, Gemüsebeete gemeinsam bewirtschaftet oder Bücherschränke aufgestellt, in denen man seine Lieblingslektüre mit anderen teilt. Die Spielarten von Gemeinschaft reichen vom zweckrationalen Austausch mit wenig Wirgefühl wie bei der Sharing Economy bis hin zu wertegetriebenen Projekten wie etwa Elterninitiativen zur Kinderbetreuung, die ein hohes Maß an Engagement einfordern.

Gemeinschaftssinn ist gesund
Belohnt werden die Mitglieder einer Gemeinschaft nicht nur mit den Erfolgen ihres Projekts. Ein gelungenes Gemeinschaftsleben wirkt sich Studien zufolge auch positiv auf die Gesundheit aus – und das sogar stärker als Nichtrauchen, Gewichtskontrolle und Sport. Die australischen Psychologen Alexander Haslam und Jolanda Jetten von der University of Queensland weisen in einer Metastudie unter anderem im „Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology“ darauf hin, dass gemeinsam erlebte Hobbys wie Wandern, Fußball oder Kochen sowie die Zugehörigkeit zu Gruppen die geistige Leistungsfähigkeit, Gesundheit und das Wohlbefinden fördern.
Gemeinschaftlicher Zusammenhalt scheint die Gesellschaft auch bei der Bewältigung aller Arten von Krisen zu stärken. „Je stärker der soziale Zusammenhalt einer Gemeinschaft ist, desto größer sind ihre Bewältigungsfähigkeiten im Umgang mit Krisen, Katastrophen und sozialen Umbrüchen“, erklärt der Forschungsverbund „Resilienz durch Sozialen Zusammenhalt – die Rolle von Organisationen“ unter Federführung der Universität Wuppertal. Sozialer Zusammenhalt sei insbesondere dort gegeben, wo sich Menschen kennen, einander vertrauen und einen gemeinsamen Normen- und Wertekanon teilen.
Krise schweißt zusammen
Auch während der Corona-Krise sind die Menschen enger zusammengerückt – und solidarisierten sich dabei sogar mit völlig Fremden. Der gemeinschaftliche Zusammenhalt ist durch Corona in vielen Ländern sogar gewachsen. Laut dem „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt 2020“ der Bertelsmann Stiftung ging etwa der Anteil der Menschen in Deutschland, die sich Sorgen um den Zusammenhalt machten, im Verlauf der Pandemie stetig zurück. Kein Wunder: Die Bereitschaft zur Rücksichtnahme im alltäglichen Verhalten ist groß. Mehr oder weniger klaglos tragen Menschen ihre Masken, achten auf Hygiene und Abstand. Dabei wird gerade das „Physical Distancing“ zum Synonym für Solidarität und gesellschaftliche Verantwortung gegenüber dem Nächsten.
Weltweit machten Geschichten die Runde, in denen Menschen völlig Fremden ihre Hilfe anboten. In Brasilien beispielsweise verteilten Freiwillige Lebensmittel in den Slums. In vielen Ländern Europas boten Menschen in Freiwilligenagenturen oder Nachbarschaftsnetzwerken Fremden ihre Hilfe beim Einkaufen an, und in London führten Nachbarn Hunde spazieren, deren Besitzer in Quarantäne waren. „Etwas Tiefgreifendes passiert ebenso in Bezug auf unsere Beziehungen zu fremden Menschen“, sagt die Kulturhistorikerin Fay Bound Alberti von der University of York. „Trotz der Negativität um gesellschaftliche Folgen von COVID-19 – von erhöhter Einsamkeit bis zu den Grenzen der sozialen Medien – sehen wir auch unerwartete positive Ergebnisse, wie etwa weitverbreitete Nächstenliebe und Empathie gegenüber Fremden. Es ist sogar möglich, dass wir im 21. Jahrhundert eine Neudefinition des Begriffs ‚Gemeinschaft‘ erleben“, meint Alberti.

Zusammenhalt als „sozialer Fluch“
Doch trotz seiner zumeist positiven Auswirkungen kann gemeinschaftlicher Zusammenhalt auch zum Fluch werden. So fanden Wissenschaftler aus Wien und Gießen heraus, dass sich Menschen schneller vom Stress anderer Personen anstecken lassen, wenn die Betroffenen ein „Wirgefühl“ von Zusammengehörigkeit, Gemeinschaft und Gemeinsamkeit verbindet. Als „sozialen Fluch“ bezeichnen die Wissenschaftler diesen ansteckenden Stress. „Es ist davon auszugehen, dass Menschen sich sogar noch deutlich stärker mit Stress anstecken, wenn sie Personen beobachten, mit denen sie ein langfristiges und stärkeres ,Wirgefühl‘ verbindet, beispielsweise bei Familienmitgliedern oder Freunden“, erklärt der Leiter der Forschungsgruppe, Professor Jan Häusser.
Noch problematischer wird es, wenn sich die Mitglieder von Gemeinschaften extrem gegen Außenstehende abgrenzen. Wo ein ausgeprägter Korpsgeist hinführen kann, zeigen diverse Wirtschafts- und Politskandale, aber auch Fremdenhass bei der Polizei oder Gewaltexzesse beim Militär, wo sich ein übersteigertes Wirgefühl gegen andere richtet.

Zusammenhalt wird von außen bedroht
Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird aber auch von außen bedroht – etwa durch Krisen, Armut oder Polarisierung. Der Klimawandel, wirtschaftliche Verwerfungen, Migration oder der Zerfall der Demokratie gefährden das Vertrauen vieler Menschen in ihre Mitmenschen und den Staat. Das zeigt sich in bestimmten Bevölkerungsgruppen auch während der Corona-Krise. „Wie unter einem Brennglas lässt Corona bereits bestehende soziale Verwerfungen noch deutlicher zum Vorschein kommen. Wer vorher schon benachteiligt war, für den stellt sich die Lage in der Krise noch schwieriger dar“, berichtet Kai Unzicker von der Bertelsmann Stiftung und nennt als Betroffene etwa Menschen mit geringerer formaler Bildung, niedrigem ökonomischen Status und Migrationshintergrund, aber auch Singles oder Alleinerziehende.
Ob die Corona-Krise die Menschen dauerhaft enger zusammenführen oder voneinander entfernen wird – daran scheiden sich in der Wissenschaft schon jetzt die Geister. Kulturhistorikerin Alberti von der University of York ist in dieser Frage vom „Glück im Unglück“ überzeugt: „Das Coronavirus verändert das Mögliche. Inmitten emotionaler Verzweiflung und Unsicherheit bietet es das Potenzial für mehr – und weniger – Verbindung, und für eine radikale Änderung des Bedeutung von Gemeinschaft an sich. Paradoxerweise kann es sein, dass diese Pandemie die Menschen einander näherbringt.“