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Dossier Mental Health 1 - Gute Tage, schlechte Tage

Beyond Science

Psychische Probleme nehmen weltweit zu. Obwohl die Tabuisierung mentaler Krankheits­bilder einer neuen Offenheit weicht, leiden Betroffene noch immer unter Vor­­­ur­teilen. Eine Stärkung der Resilienz ist der Schlüssel zur seelischen Gesundheit.

Dass mit dem Einzug von Prinz Harrys Frau Meghan Markle ins britische Königshaus zwei Welten aufeinanderstießen, weiß man nicht erst seit der Flucht des prominenten Paares in die USA. Besonders hoch jedoch schlugen bei den Royals offenbar die Wellen, als die Herzogin offen über ihre psychischen Probleme sprach. Im Interview mit Talkshow-Queen Oprah Winfrey berichtete Meghan im März 2021, ständig an Selbstmord gedacht zu haben. „Ich habe mich geschämt, es damals zu sagen. Ich wollte einfach nicht mehr leben. Und das war ein sehr realer und klarer und angsteinflößender und ständig präsenter Gedanke“, sagte sie. Auf ihr Flehen um psychologische Hilfe habe man im Königshaus mit einem Nein reagiert. Die Begründung war laut Meghan die Furcht vor einem Ansehensverlust.

Wenn die Last schwer wiegt
Nicht länger verharmlosen, verschleiern, verstecken – Herzogin Meghan reiht sich ein in eine Riege Prominenter, die Schluss mit der Verleugnung ihrer psychischen Probleme machen. Im vergangenen Jahr sorgte die US-amerikanische Turnerin Simone Biles mit ihrem Rückzug von den Olympischen Spielen für Schlagzeilen. Die viermalige Olympiasiegerin war mit Verweis auf ihre psychischen Probleme mitten im Finale 2020 ausgestiegen. „Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, das Gewicht der Welt auf meinen Schultern zu tragen“, schrieb der Turnsuperstar später.Mit ihrer Offenheit traf die 19-fache Weltmeisterin bei vielen Fans und Kollegen den richtigen Nerv. „Simone Biles verdient Dankbarkeit und Unterstützung“, twitterte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki. Der frühere Schwimmstar Michael Phelps sagte, ihm habe die Entscheidung das Herz gebrochen. „Als jemand, der unter Depressionen und Ängsten litt, trägt Biles‘ Offenheit zum Thema psychische Gesundheit einen gewaltigen Teil dazu bei, dieses Stigma ein für alle Mal zu beseitigen“, sagte Phelps der Zeitschrift „People“ nach der Verleihung des Hope Award for Depression Advocacy.Der 28-fache Olympiamedaillengewinner hatte nach seinem Karriereende 2017 selbst öffentlich erklärt, an Depressionen zu leiden, und setzt sich seitdem für einen offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen ein. Immer noch hätten viele Menschen Angst, über ihre Krankheit zu sprechen, weil sie befürchteten, stigmatisiert und abgestempelt zu werden, so Phelps. „Wir brauchen nur mehr Menschen, die offen damit umgehen, um diese Wand nach und nach niederzureißen“, betonte Phelps.

Es kann jeden treffen
Die Erfahrungen der Stars zeigen eindrucksvoll, dass selbst Ruhm und Reichtum keine Garantie für ein sorgenfreies Leben bieten – und dass psychische Erkrankungen jeden treffen können. Tatsächlich leiden in jüngster Zeit weltweit immer mehr Menschen an psychischen Krankheiten. Nach einer Studie der australischen University of Queensland und der University of Washington gab es im Coronajahr 2020 rund 53 Millionen Fälle von schweren depressiven Störungen und 76 Millionen Fälle von Angststörungen zusätzlich, die auf die Pandemie zurückzuführen sind. Das entspreche weltweit einer Steigerung von 28 beziehungsweise 26 Prozent,
schreiben die Forschenden im Fachmagazin „The Lancet“. Besonders betroffen seien Frauen und jüngere Menschen. In Europa sorgte der Krieg gegen die Ukraine laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) für eine zusätzliche Verschlechterung der gesundheitlichen Lage. In der europäischen WHO-Region, zu der neben der EU auch die Ukraine und Russland zählen, litten schon im Jahr vor Kriegsbeginn mehr als 150 Millionen Menschen unter psychischen Gesundheitsproblemen.

Defizite in der Versorgung
Die Versorgung der Patienten lässt indessen zu wünschen übrig. Obwohl die Europäische Region bei der psychiatrischen Versorgung weltweit das beste Verhältnis aufweist (pro 100.000 Einwohner stehen 50 psychiatrische Fachkräfte zur Verfügung, darunter Psychiater und Krankenpfleger sowie Sozialarbeiter und Logopäden), erhält selbst hier laut WHO nur etwa jeder dritte Mensch mit Depressionen Hilfe. Besonders gut sorgt Norwegen für die psychisch Kranken. Hier betreuen 48 Psychiater im Schnitt 100.000 Einwohner, während in anderen Ländern Europas teilweise nur ein Psychiater für dieselbe Zahl an Einwohnern zuständig ist. Die Autoren der „Lancet“-Studie rufen Regierungen zum Handeln auf. „Die Pandemie zeigt die Notwendigkeit, das psychische Gesundheitssystem in den meisten Ländern zu stärken.“

Die Pandemie zeigt die Notwendigkeit, das psychische Gesundheitssystem in den meisten Ländern zu stärken.

Autoren einer „Lancet“-Studie

Vorurteile noch weit verbreitet
Zusätzlich zur mangelhaften Versorgung leiden viele psychisch Erkrankte weltweit unter Vorurteilen. Nach einer Langzeituntersuchung der Indiana University in Bloomington unter US-Amerikanern ist die Stigmatisierung von Menschen mit Depressionen seit 1996 zwar gesunken. Dafür hat sich die Ablehnung von Menschen mit Diagnosen wie Schizophrenie oder Alkoholismus noch verstärkt. Für Deutschland kommt eine Langzeitstudie der Universität Greifswald zu ähnlichen Ergebnissen. „Es ist ermutigend, progressivere Einstellungen gegenüber psychischen Erkrankungen unter den Millennials zu finden. Das öffentliche Stigma rund um die Depression wird deutlich geringer“, sagt die Co-Autorin der US-Studie, Brea Perry. „Insgesamt bekräftigen unsere Ergebnisse ein Überdenken von Stigma sowie das Umrüsten von Stigmareduktionsstrategien, um die öffentliche Meinung über psychische Erkrankungen zu verbessern. Es gibt noch viel zu tun.“Häufig erweist sich Arbeit für psychisch Kranke als beste Medizin – denn berufliche Rehabilitation ist ein wichtiger Schritt zurück ins Leben. Doch auch hier macht es ihnen die Gesellschaft schwer. In vielen Ländern Europas finden Menschen mit psychischen Leiden nur mühsam Zugang zum ersten Arbeitsmarkt und kommen häufig in Werkstätten für Behinderte unter. Fortschrittlicher sind die USA, wo sich schon länger der Trend zur Inklusion psychisch Kranker durchsetzt. „First place, then train” nennen die Amerikaner den Ansatz, Betroffene ohne vorbereitende Trainings direkt in Unternehmen zu schicken. Ihre Chance auf einen regulären Arbeitsplatz ist Studien zufolge doppelt so hoch wie nach einem Training in einer Werkstatt.

Stärkung der Widerstandskraft
Damit insbesondere in Zeiten von Pandemie und Krieg psychische Erkrankungen nicht noch weiter um sich greifen, plädieren Gesundheitsexperten weltweit für eine Stärkung der Resilienz, also jener psychischen Widerstandskraft, die uns hilft, mit Krisen und Schicksalsschlägen gut umzugehen. Der Grundstein dafür wird in der Kindheit gelegt – zum Beispiel durch ein verlässliches und liebevolles familiäres Umfeld. Auch an Kindergärten und Schulen gibt es immer häufiger Konzepte zur Resilienzförderung. Natürlich lässt sich die psychische Widerstandsfähigkeit auch im Erwachsenenalter noch aktiv trainieren. Die American Psychological Association (APA) nennt in ihrem Programm „Road to Resilience“ zehn wichtige Faktoren, dazu zählen etwa der aktive Aufbau von Beziehungen, das Akzeptieren von Veränderungen sowie zielorientiertes und proaktives Handeln.Unterdessen setzen sich weltweit Vereine und Stiftungen wie die Mental Health Foundation of New Zealand weiter für mehr Akzeptanz im Umgang mit Betroffenen ein. In der Schweiz richtet sich mit „Anxy“ sogar ein Magazin an psychisch Erkrankte, die hier selbst als Autoren von ihren Erfahrungen berichten. Die Ehrlichkeit erkrankter Stars und die neue Offenheit, mit der in den sozialen Medien über psychische Leiden gesprochen wird, kann der Anfang für einen langen Weg zur Inklusion seelisch Kranker sein. Und die Stärkung der Resilienz führt im besten Fall zu einer besseren psychischen Gesundheit weltweit.

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