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In der DNA-Werkstatt

Beyond Science

Enzyme und deren Rolle bei DNA-Reparaturen sind das Spezialgebiet von Maurice Michel. Seine jüngste Entdeckung könnte neue Perspektiven für die Arzneimittelherstellung eröffnen – und für die personalisierte Medizin.

Am Anfang wollte Maurice Michel dazu beitragen, neue Inhibitoren zu entwickeln. Inhibitoren sind, biochemisch gesprochen, Moleküle, die die Wirkung eines Enzyms blockieren. Als Inhibitoren bezeichnet man aber auch Medikamente, etwa in der Onkologie, die gewisse Proteine blockieren und auf diese Weise das Tumorwachstum eindämmen. Hintergrund: Viele Eiweiße sind an der Entwicklung von Krebs oder Alzheimer beteiligt. Doch dann kam alles anders: Statt Inhibitoren entdeckte der Biochemiker einen neuen Wirkmechanismus. „Ein echter Durchbruch”, sagt er selbst.
Dass Michel thematisch breit aufgestellt ist, war dabei überaus hilfreich: „Der Chemiker in mir konnte in dem Moment, als wir nicht mehr weiterwussten, die richtigen Fragen stellen.” Studiert hat er in dem niedersächsischen Städtchen Clausthal, Chemie war seine erste Wahl. Seine Leidenschaft indes galt der Biochemie, und so ging er zur Promotion an das Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung nach Potsdam. „Ich habe früh meine Nase überall reingesteckt”, erzählt Michel, der als Assistenzprofessor am schwedischen Karolinska Institutet arbeitet. Wer sein LinkedIn-Profil besucht, kann durch seine vielfältigen Kompetenzen stöbern – von Impfstoffen bis zum Hochschulunterrich
Ein ganz normaler Spitzenforscher
1986 im sächsischen Torgau geboren, aufgewachsen mit einem Garten vor der Tür, habe er „Blumen geschaut und Kartoffelkäfer gesammelt”. Vielleicht keimte hier die Begeisterung für die Wissenschaft. Als das Magazin „National Geographic” auf Deutsch herauskam, habe er es sofort abonniert und begonnen, ein privates Büchlein zu führen, in das er seine Ideen oder, wie er sagt, „nerdigen Notizen” zu verschiedenen Themen hineinschrieb. Er machte sich früh selbst ein Bild – da war er gerade einmal 16.
Heute ist Maurice Michel 36 Jahre alt und erhielt im Sommer den mit 20.000 Euro dotierten Eppendorf Award for Young European Investigators 2023. Der Biochemiker forscht derzeit am Science for Life Laboratory auf dem Campus des Stockholmer Karolinska Institutet und hat bereits 20 Studierende auf ihrem Weg zum Master begleitet.
2017 kam Maurice Michel als Postdoc nach Schweden in die Abteilung für Onkologie und Pathologie von Thomas Helleday, der sich damals neu auf Entzündungsprozesse spezialisiert hatte. In seiner nun prämierten Studie verbesserten Maurice Michel und sein Team die Funktion des Proteins OGG1. Dieses Enzym interessierte die Forschenden besonders, da es an der Beseitigung von DNA-Schäden beteiligt ist. So eine DNA-Reparatur ist nichts Besonderes, „das passiert 10.000-mal am Tag in jeder Körperzelle”, erklärt Michel. Doch mit zunehmendem Alter und oxidativem Stress häufen sich chronische Entzündungen und damit die Zahl von DNA-Schäden, die ihrerseits für diverse Krankheitsbilder wie Krebs, Alzheimer, Diabetes oder chronische Organentzündungen verantwortlich sein können. An diesem OGG1 also ließ Michel bestimmte Katalysatormoleküle ankoppeln und stellte dabei Ungewöhnliches fest: Das kleine gebundene Molekül agiert als Beschleuniger (Aktivator) und gar nicht als Hemmschuh (Inhibitor).

Kleine Moleküle, die an der Reaktion im Enzym teilnehmen und daraus unverändert hervorgehen – das sei „in einer lebenden Zelle etwas komplett Neues”, erklärt Michel. Es stellte sich heraus, dass nur diese Katalysatormoleküle es schaffen, neue Reaktionen auszulösen, die das Enzym ohne sie nicht auslösen kann. Und ein weiterer Teil der Entdeckung: Michel konnte die Funktion des Enzyms verbessern. „Das Enzym ist dann zehnmal effektiver bei der Reparatur oxidativer DNA-Schäden”, so Michel. Eine große Chance für neue Therapieoptionen. Laborchef Helleday schwelgt gar von einem möglichen „Paradigmenwechsel” in der pharmakologischen und medizinischen Forschung. Eine personalisierte Krebsmedikation würde die therapeutischen Möglichkeiten weit nach vorne katapultieren.

Geistesblitz bringt die Wende
Dass Michel besonders begabt ist, fiel schon zu Schulzeiten auf. Für Chemie habe er keine Minute lernen müssen – selbst der Zitronensäurezyklus hätte sich ihm sofort erschlossen. Irgendwann sei in ihm der Wunsch gewachsen, mit diesem Talent Gutes zu tun, etwa Impfstoffe sowie neue diagnostische Pfade und Medikamente zu entwickeln. Sein Erfolg bringt ihn diesem Ziel ein großes Stück näher, und dennoch gibt sich der viel Gelobte zurückhaltend. „Wissenschaftliche Entdeckungen stellen sich in der Retrospektive oft ‚etwas poliert‘ dar“, relativiert Michel. Man schaue auf die fünf Jahre der Studiendauer zurück und sehe nur die Stringenz. Aber der Weg zur Erkenntnis sei geprägt von Irrungen, viel Disziplin, „wochenlangem Stillstand und einem plötzlichen Geistesblitz”, der die richtige Richtung weise. „Man muss in der Forschung auch Glück haben.”
Maurice Michel wohnt inzwischen in einem Häuschen auf dem Land mit hübschem Garten nahe der Ostsee. Strand und Wald sind nicht fern, und mit dem Schnellzug ist er im Nu in Stockholm. „Die Abgeschiedenheit hilft mir beim Denken. Und oft kommen mir die besten Gedanken, wenn ich nicht aktiv darüber nachdenke“, sagt Michel. So kann er gut entspannen, während er für seine Fitness viele Kilometer auf dem Bike zurücklegt, Gewichte stemmt oder sich der Gartenarbeit widmet – im letzten Sommer hätten seine Frau und er 200 Gurkengläser eingeweckt, die seien als „Tauschware” etwa mit Elchfleisch „hochbegehrt”. Außerdem liest er viel, natürlich vor allem Fachliteratur. „Die lasse ich mir mittlerweile von ChatGPT vorsortieren.”
Er genieße besonders die Momente, wenn er seiner Frau, von Beruf auch Naturwissenschaftlerin, vorlesen könne. Das Paar lernte sich während der Promotion kennen und zog gemeinsam in den hohen Norden. Ihr Lesespektrum ist bunt – es reicht von Sachbüchern über den Nutzen der Gentechnologie hin zur Fantasyreihe „The Witcher”. Während er vorliest, häkelt sie gerne. Im Sommer waren es mit Vorliebe kleine Babyschuhe – die beiden wurden vor Kurzem erstmals Eltern.

Vorteil Schweden
Schweden sei nicht nur ein „Paradies für junge Familien”, schwärmt Michel. Die Forschungslandschaft biete ihm überdies „ein sehr gutes Setting”: Auch ohne eigenes Labor genieße er „alle Freiheiten”, zudem seien die Synergien groß. Am Karolinska Institutet, das de facto eine Universität ist, arbeiten Forschende verschiedener Disziplinen Tür an Tür. „Das ist sehr anregend, überall kann ich Expertise einholen oder auch Zellproben direkt aus der Uniklinik beziehen.“ Diese sei überdies eines der führenden Krankenhäuser weltweit. Auch sein Team besteht aus diversen Spezialisten: Chemikern, Biochemikern, Bioinformatikern, Medizinern, Pharmakologen, auch ein Veterinär ist dabei. Zudem gebe es diverse Kollaborationen: mit Spanien in puncto Herzerkrankungen, aber auch mit einer Spezialklinik für Lebererkrankungen in Shanghai. „Gleichzeitig ergründen wir am Karolinska Lungenentzündungsprozesse sowie das Hutchinson-Gilford-Syndrom, das zu Vergreisung im Kindesalter führt”, verrät Michel. Seine Forschung zur DNA-Reparatur nimmt also längst praktische Züge an.