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Dossier Kreativität 1 - Den Kreativen gehört die Zukunft

Beyond Science

Künstliche Intelligenz kann Musik von Beethoven imitieren, journalistische Texte schreiben, ja sogar Gemälde erschaffen. Wird menschliche Kreativität also in Zukunft überflüssig? Die klare Antwort lautet: Nein. Sie ist gefragter denn je.

Was Ludwig van Beethoven nie vollendet hatte, sollte eine Künstliche Intelligenz übernehmen: die Fertigstellung der zehnten Symphonie. Zwei Jahre lang hat ein Computer für das KI-Projekt „Beethoven X“ gerechnet. Zuvor war er mit rund 10.000 Musikstücken aus Beethovens Zeit gefüttert worden. Das Ergebnis, das im Oktober 2021 in Bonn uraufgeführt wurde, wertete die Fachwelt höflich als „interessant“. Das Fazit des Dirigenten Dirk Kaftan: Die KI habe die Vergangenheit verarbeitet. Dass sie etwas originäres Neues schaffen könne, daran habe er große Zweifel.

Kreativität hat Konjunktur

Ein Genie wie Beethoven wird keine KI je ersetzen können. Aber auch jenseits der Welt der Wunderkinder und Virtuosen ist für echte Kreativität menschlicher Geist gefragt. Trotz aller Fortschritte der KI ist Kreativität im 21. Jahrhundert so wichtig wie nie. Erziehungswissenschaftler um Stephen Lamb von der University of Melbourne zählen sie zu den „Key Skills for the 21st Century“. Ganz praktisch sieht man es anhand der gesuchten „Soft Skills“ in zahllosen Stellenanzeigen: Kreativität hat Konjunktur.
Doch was genau ist Kreativität eigentlich? Eine allgemein gültige Definition gibt es nicht. Denn was einen Menschen kreativ macht, liegt stark im Auge des Betrachters. Empfindet der eine einen erfolgreichen Maler oder Schriftsteller als genial, erkennt ein anderer Kreativität eher bei einem Ingenieur oder einer Chemie-Nobelpreisträgerin. Auch der Zeitgeist spielt eine Rolle. So führten viele begnadete Künstler wie Johann Sebastian Bach oder Vincent van Gogh bis zu ihrem Tod ein Schattendasein. Van Gogh verkaufte zu Lebzeiten nur ein einziges seiner Gemälde für 400 Francs – während seine Kunstwerke heute geradezu astronomische Preise erzielen.
Neu und nützlich
Auf einen gemeinsamen Nenner konnte sich die Wissenschaft immerhin einigen: Kreativität beschreibt demnach die Fähigkeit, Dinge oder Lösungen zu erschaffen, die neu und gleichzeitig nützlich sind. Das Potenzial, kreativ sein zu können, ist Forschenden zufolge bereits Kindern in die Wiege gelegt. Laut Professor Sebastian Kernbach ist der Mensch im Kindesalter sogar am kreativsten. Um sich diese Fähigkeit im späteren Leben zu bewahren, muss jedoch einiges hinzukommen: Begabungen oder Talente, umfassendes Wissen auf einem bestimmten Gebiet, Motivation und Fleiß, Persönlichkeitseigenschaften wie Lust am Neuen und Selbstbewusstsein sowie ein förderndes und forderndes Umfeld, das die Entfaltung von Talenten erlaubt. Letztlich, betonen die Psychologen Vlad Petre Glăveanu von der Dublin City University und James C. Kaufman von der University of Connecticut, hat jeder das Zeug zur Kreativität: „Wir alle sind kreativ, zumindest potenziell. Kreativ zu sein bedeutet, neue und nützliche Ideen oder Dinge zu ersinnen. Kreativ zu sein, ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit in der heutigen sich verändernden Welt. Kreativität ist der Schlüssel zum Erfolg in fast allen Lebensbereichen, privat und beruflich. Sie kann und sollte erlernt werden. In den meisten zivilisierten Gesellschaften kann man nie genug davon haben.“

Das zeigt sich insbesondere an der Vielzahl von Angeboten zu entsprechenden Techniken und Gehirntrainings. Doch lässt sich kreatives Denken wirklich aktiv steuern? Das hat der Psychologe Roger E. Beaty von der Pennsylvania State University untersucht. Sein Ergebnis: Kreativität beruht nur teilweise auf kontrolliertem Denken. Erfahrungen erledigen den Rest. „Wir betrachten kreatives Denken als ein dynamisches Zusammenspiel zwischen dem Gedächtnis und den Kontrollsystemen des Gehirns. Ohne Gedächtnis wäre unser Verstand ein unbeschriebenes Blatt – nicht förderlich für Kreativität, die Wissen und Erfahrung voraussetzt. Aber ohne mentale Kontrolle wären wir nicht in der Lage, in neue Richtungen zu denken und zu vermeiden, in erlerntem Wissen zu versacken“, so der amerikanische Psychologe. Ob Kreativität jedoch langfristig gestärkt werden könne, sei bislang wissenschaftlich nicht untersucht, bedauert Beaty.

Tapetenwechsel für neue Gedanken
Trotzdem ist die Forderung nach mehr Kreativität allgegenwärtig. Man müsse schon Kindern universelle Fähigkeiten vermitteln, die uns von Maschinen unterschieden, verlangt etwa der Gründer der Handelsplattform Alibaba, Jack Ma. Wie das im Alltag gelingt? Kinder brauchen Erziehungswissenschaftlern zufolge kreative Erwachsene. Für diese wiederum gibt es zahlreiche Tipps, wie sie kreative Lösungen finden. So fanden Forschende der Stanford University heraus, dass bei Bewegung an der frischen Luft auch frische Ideen entstehen – mehr als beim Sitzen oder auch auf dem Laufband. Auch Ortswechsel, das Schweifenlassen der Gedanken, handyfreie Zeiten oder ein wenig Chaos auf dem Schreibtisch sollen die Kreativität beflügeln. Routinen im Alltag zu durchbrechen, kann uns ebenfalls inspirieren: einfach mal einen anderen Weg nach Hause wählen und schauen, was es da zu entdecken gibt.
Ob im Marketing, in Forschungsabteilungen von Unternehmen oder an den Hochschulen: Besonders die Arbeitswelt lechzt nach Ideenreichtum und Innovationen. Etablierte Kreativitätstechniken wie Brainstorming (freies Assoziieren), Mindmaps (Visualisierung von Ideen auf einem Blatt Papier) oder verschiedene Design-Thinking-Ansätze haben gemeinsam, dass sie das Denken auf neue Wege lenken wollen – und dem Altbewährten nach dem Muster „Das haben wir immer schon so gemacht“ den Kampf ansagen.

Kreativität ist der Schlüssel zum Erfolg in fast allen Lebensbereichen, privat und beruflich. Sie kann und ­sollte erlernt werden.


Vlad Petre Glăveanu,
Dublin City University

James C. Kaufman,
University of Connecticut

Räume für Kreativität schaffen
Ob solche Techniken und Methoden die Kreativität nachhaltig steigern, ist umstritten. Vielleicht auch deshalb mehren sich Zweifel an der „Hochkonjunktur von Ideenworkshops und Kreativitätsmethoden“, die dazu da seien, „routinemäßig neue Produkte und Services zur Gewinnmaximierung“ zu entwickeln, kritisierten etwa die Herausgeber der Trendstudie „Free Creativity“ des Frankfurter Zukunftsinstituts. Wirklich zukunftsfähige Innovationen sind demnach konsequent auf Sinnfragen und Nutzen ausgerichtet – und das Selbstdenken und Einfühlen wichtige Voraussetzungen für echte Kreativität.
Unternehmen und Forschungseinrichtungen sollten sich entsprechend auf die kreativen Grund­potenziale des Menschen fokussieren, die Maschinen noch nicht beherrschen, und dafür ein offenes und innovationsfreundliches Umfeld schaffen. Nicht zuletzt können uns die Kreativitätstechniken aus der Kindheit wie Musizieren oder Malen auf ganz neue Ideen bringen. Der Psychologe Beaty betont: Solange wissenschaftlich nicht geklärt ist, ob kogni­tive Fähigkeiten durch neurowissenschaftliche Methoden und Techniken tatsächlich verbessert werden können, ist die gute, alte Kunsterziehung vielleicht die beste Lösung.


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