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Wunderwerk Hand

Beyond Science

Sie sind das vielfältigste Werkzeug, das die Evolution hervorgebracht hat. Sie sprechen die Sprache der Gesten, helfen uns, zu denken, und lassen uns zu Schöpfern werden. Mit den Händen ertasten, begreifen und gestalten wir die Welt.

„Eine verrückte Idee war es schon“, sagt der Cellist Burkard Maria Weber. Zusammen mit dem Extremkletterer Alexander Huber und einigen Helfern schleppte er im Juni 2019 einen kleinen Flügel und ein Cello über einen schmalen Grat auf den Heidenpfeiler im Pfälzerwald. Anschließend kletterten der Profimusiker und der „Huberbua“ die 60 Meter hohe Steilwand dieses Sandsteinfelsens hinauf – und spielten oben auf dem knapp zehn Quadratmeter großen Plateau „Clair de Lune“ von Claude Debussy.
„Concerto Vertical“ nannten die beiden ihre Kunstaktion, die es bis ins Fernsehen schaffte. Kletterstar Alexander Huber erwies sich dabei als erstaunlich guter Pianist und Cellist Burkard Maria Weber als verblüffend sicherer Kraxler. „Wir wollten demonstrieren, wozu Hände in der Lage sind“, erklärt Weber. Extreme Kraftleistung sei mit ihnen ebenso möglich wie äußerstes Feingefühl. Der 54-Jährige, der mit seiner Löwenmähne und seinem Stirnband eher wie ein Rockmusiker als ein Klassiksolist wirkt, bringt seine scheinbar gegensätzlichen Leidenschaften problemlos zusammen. „Das Klettern wirkt sich sogar positiv auf mein Spiel aus“, sagt Weber. „Danach habe ich meist total freie Gelenke und lockere Finger.“

Filigran und vielseitig
Unsere Hände sind ein Wunderwerk. 27 Knochen, die durch Gelenke und Bänder miteinander verbunden sind, 33 Muskeln und drei Hauptnervenäste sowie Bindegewebe, Blutgefäße und mit hochempfindlichen Tastsensoren gespickte Haut bilden das filigranste und vielseitigste Greif- und Tastwerkzeug, das die Evolution bisher hervorgebracht hat. Der Handteller ist durch eine kräftige Sehnenplatte geschützt und ermöglicht kraftvolles Zupacken. Die durchschnittliche Griffkraft eines Mannes entspricht etwa einem Gewicht von 50 Kilogramm. Frauen besitzen im Mittel nur etwa halb so viel Druckkraft. Sportler schaffen Werte, die 100 Kilogramm deutlich übersteigen können.
Die Finger sind dennoch bei den meisten Menschen schlank und feingliedrig. Das liegt unter anderem daran, dass in ihnen keine Muskeln stecken. Sie werden quasi ferngesteuert, ähnlich wie eine Marionette, die an Fäden hängt. Flexible und belastbare Sehnen verbinden sie mit den Muskeln in der Handfläche, dem Unterarm und sogar der Schulter. Mit diesen Werkzeugen kann der Mensch fantastische Leistungen vollbringen. Angefangen damit, Feuer zu entfachen, feinste Getreidekörner vom Boden aufzusammeln oder Netze zu knüpfen. Bis zur Fähigkeit, filigrane Uhrwerke zu konstruieren, die winzigen Herzen von Neugeborenen zu operieren oder Blindenschrift zu entziffern.
Seine musikalische Klettertour war für Burkard Maria Weber ein besonderer Belastungstest und eine Erinnerung daran, wie sensibel und fragil unsere Hände sind. Vor etwa zwei Jahren hatte ein unbemerkt hochfahrendes Autofenster die Spitze seines linken Mittelfingers eingequetscht. Als er ihn reflexhaft zurückzog, wurden auch Gelenkkapsel und Sehnen verletzt, ausgerechnet an jenem Finger, der am Griffhals des Cellos besonders wichtig für die Orientierung und das saubere Spiel ist. „Die Schmerzen waren anfangs höllisch und flammten auch nach Monaten immer wieder auf“, erzählt der Musiker. „Natürlich waren sofort die Ängste da, dass ich nicht mehr ohne Schmerzen Musik machen kann. Das hat bei uns Profimusikern sofort etwas Existenzielles.“

Yoga für das sensible Körperteil
Weber suchte Hilfe bei Jochen Blum, Chefarzt am Klinikum Worms. Er ist Unfall- und Handchirurg, spielt selbst mehrere Instrumente, hat als junger Mann in Siena eine Lehre als Geigenbauer absolviert und bietet seit mehr als 30 Jahren eine spezielle Sprechstunde für Musiker an. „Ich operiere gerade bei Musikern nur, wenn es wirklich nicht anders geht“, sagt er. Oft helfen, wie bei Burkard Maria Weber, ein individuell angepasstes Bewegungstraining und gezielte Entspannungsübungen, eine Art Hand-Yoga. Selten setzt Blum Musikern auch künstliche Fingergelenke ein, oder er ersetzt einen Daumen mit einer Zehe.
Eine Schädigung oder der Verlust eines Daumens, so Blum, sei besonders dramatisch. Denn der Daumen ist der Clou der menschlichen Hand. Vor allem durch das flexible Daumensattelgelenk wird sie zum universellen Werkzeug. Mit seiner Hilfe können wir präzise Pinzettengriffe ebenso gut durchführen wie kräftige Zangenbewegungen. Und wir sind in der Lage, mit unserem Daumen und dank seines kugelartigen Gelenks etwa Stifte oder Schrauben sicher zu halten und kunstvoll zu bewegen.

Diagnose per Tasten und Fühlen
Hände lassen sich wie ein eigenständiges Sinnesorgan einsetzen. Sie erspüren die Temperatur von Wasser, führen im Dunkeln einen Schlüssel zielsicher in sein schmales Loch, entdecken mit den Fingerkuppen Unebenheiten, die mit bloßem Auge nicht zu sehen sind. Mit etwas Erfahrung unterscheiden unsere Fingerspitzen echte Seide von Kunstseide oder Leder von Kunstleder. Eine Berührung steckt voller feiner Nuancen. Sie kann auch Zärtlichkeit und Erregung, Wärme und Nähe wahrnehmen und weitergeben.
Ein dichtes Netzwerk von Rezeptoren und Nervenbahnen leitet die Empfindungen weiter in unser Rückenmark und unser Gehirn. Für den Handchirurgen sind die eigenen Hände das entscheidende Werkzeug. Tasten und Fühlen gehören für Jochen Blum zu seinen wichtigsten Diagnosemethoden: „Darüber bekomme ich oft mehr Informationen als durch Röntgengeräte oder andere technische Verfahren.“
Bei einem Kontrolltermin in seiner Musikersprechstunde beobachtet Jochen Blum das Cellospiel von Burkard Maria Weber bis ins kleinste Detail: die Bogenführung, die Schnelligkeit der Griffhand, die Perfektion des Vibratos. Anschließend tastet er die linke Hand des Musikers vorsichtig ab. Sie ist schlank und sehnig. Die Blutgefäße treten stark hervor und winden sich wie Schlingpflanzen über den Handrücken. An den Fingerkuppen ist die typische Hornhautbildung eines Streichers erkennbar. Blum prüft die Beweglichkeit der Gelenke, sucht nach Schwellungen, Verhärtungen und ungewöhnlichen Strukturen der Ringbänder, die den Fingern ihren Halt geben. Der Arzt ist zufrieden: „Klasse, keine gravierenden Auffälligkeiten mehr.“ Weber lächelt erleichtert